1954 – war ich noch nicht geboren. Meine Eltern kannten sich aber schon und heirateten ein Jahr nach dem „Wunder von Bern“.
1974 – war ich 14 und ergriffen von der Euphorie um Netzer, Breitner, Beckenbauer und Co. Ich war Gymnasiastin, eine gute Schülerin in Deutsch, miserabel in Mathe und hatte gerade meine erste (unglückliche) Verliebtheit hinter mir – in einen Jungen aus der Parallelklasse mit blondem Haar und schwarzer Lederjacke. Ob er Fußballfan war, habe ich nie erfahren. Aber die Welt stand offen …
1990 – hatte ich gerade mein Studium in Frankfurt erfolgreich mit dem Magister Artium abgeschlossen, als die WM in Italien begann. Ich fuhr in jenem heißen Sommer mit einem Freund nach Wien, um George Taboris Inszenierung von Shakespeares „Othello“ mit Gert Voss in der Titelrolle zu sehen. Andreas wollte mit mir weiter nach Italien zur WM, aber ich musste zurück, weil ich ein Autorenstipendium im Künstlerdorf Schöppingen im Münsterland antreten durfte. Dort lernte ich meinen Mann Peter kennen, der ebenfalls ein Stipendium hatte. Wir trafen uns regelmäßig abends im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher zu den Fußballspielen und waren live dabei, als Kapitän Lothar Matthäus den Pokal in die Höhe reckte und Trainer Franz Beckenbauer während der Siegestrunkenheit seiner Mannschaft traumverloren allein einen Moment auf dem Rasen stand. Damals wusste ich noch nicht, dass der Mann an meiner Seite der Mann meines Lebens würde. Die Welt stand offen …
2014 – habe ich vier Wochen lang mit gefiebert, fast alle Spiele während der WM in Brasilien gesehen: das Ausscheiden der Chilenen und der Kolumbianer mit ihrem großartigen James Rodriguez, die Niederländer mit grandiosem Auftakt und dann immer schwächer im Turnier, die argentinischen „Stiere“ mit ihrem Superstar Messi, die Brasilianer voller Hoffnung, bis zur schweren Verletzung ihres Superstars Nejmar, Klinsmann und sein tapferes US-Team, Hitzfeld mit seinen starken Schweizern und immer wieder die Deutschen! Die Deutschen mit ihrem großartigen Mannschaftsgeist, ihrer spielerischen Überlegenheit, in Leichtigkeit, Schwierigkeit und Kampf bis zum traumhaft sensationellen 7:1 Sieg über Brasilien im Halbfinale und dem Titelgewinn im Finale gegen Argentinien im legendären Maracana-Stadion von Rio de Janeiro. 24 Jahre nach dem letzten Titel saßen Peter und ich wieder (immer noch) auf dem Sofa vor der Flimmerkiste. 24 Jahre gemeinsam durch die Stürme und die lauen Brisen des Lebens gesegelt, auf dem Weg zur nächsten gewonnenen Weltmeisterschaft.
Der Fußball hat ein Geheimnis. Über alles Heldentum und Kampfgeschrei, über jeden Lokal- und Nationalpatriotismus hinaus. Einzig dem Fußball gelingt, was sonst nur große Liebe erzeugen kann: Emotionen bis zum Anschlag, Herzrasen und das Gefühl, ins Leere zu stürzen, wenn es vorbei ist. Vielleicht habe ich das im Weltmeisterschaftsjahr 1966 mit auf den Weg bekommen, als sich in unserer damaligen Wohnung im Hinterhaus die ganze Hausgemeinschaft um den Schwarzweißfernseher meiner Eltern versammelte, um das berüchtigte Endspiel Deutschland – England zu sehen, das die Deutschen tragisch verloren. Ich weinte mit meinen sechs Jahren gemeinsam mit den Erwachsenen, als es vorbei war, auch wenn ich nicht recht begriff, worüber genau. Ich fühlte ich mich verloren. leer. Das Gefühl, dass ich irgendetwas Großes verpasst hatte, war überwältigend. Vielleicht lag es an dem fußballverrückten Nachbarjungen, der mich damals, wenn wir im Hof zusammen spielten, zwang, im Tor zu stehen, wo ich seine Bälle nicht halten konnte. Vielleicht steckt aber auch etwas ganz anderes dahinter. Eben das unergründliche Geheimnis des Fußballs.
Zurück ins Jahr 2014 – 13. Juli im Maracana. Das Spiel. Die Nacht von Rio. Dann der Rückflug der Mannschaft, der Empfang der Weltmeister in Berlin. Und dann: Vorbei. Die Spieler fliegen nach Hause, in den Urlaub, zu ihren Familien. In dieser Konstellation wird es die Mannschaft vermutlich nie wieder geben. Und wir? Kehren zurück in den Alltag. Da ist sie, die vertraute Leere. Aber Peter sagt, noch auf dem Sofa sitzend, als die Mannschaft zum letzten Mal den Bus besteigt: Dann bis in fünfundzwanzig Jahren, da sitzen wir wieder hier. Ich rechne kurz still für mich nach. In fünfundzwanzig Jahren, da wäre er 89. Nun, da ist es ja gut, dass alle VIER Jahre Weltmeisterschaft ist. Denn in vierundzwanzig Jahren ist er Gott sei Dank erst 88! Welcher gnädige Gott schenkt uns so viel Zeit bis dahin? Dann wären wir jetzt gerade mal in der Halbzeit! Na klar, es gibt einen, den man darum bitten könnte: den Fußballgott! Und die Welt? Steht immer noch offen …?
PS.: Einmal stand mir in diesen Tagen die Stimmung in der Küche meiner Eltern von 1966 wieder vor Augen, als Deutschland England im legendären Finale von Wembley unterlag. Das war, als sich im Autoradio auf dem Weg zum Einkaufen eine glückliche Neunjährige zu Wort meldete und sagte: „Ich bin ja zum ersten Mal Weltmeister geworden!“ – Sie ist zu beneiden. Auch darum, dass sie noch nicht weiß, dass sie vielleicht sehr lange warten muss, um dieses Gefühl wieder zu erleben.
PPS.: Hoch lebe diese deutsche Mannschaft, vor deren Können, Teamgeist, Fairness und Kampfgeist sich die ganze Welt zu recht verneigt. Danke Jungs!